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ie Wachen umstellten Enrico und Lucius und
bedrohten sie mit ihren Maschinenpistolen, als rechneten sie
tatsächlich mit einem körperlichen Angriff.
Enrico dachte an das, was zwei Jahre zuvor am
Monte Cervialto geschehen war, an Vanessas Mut, als
sie in den Tod sprang und Kardinal Lavagnino mit
sich riß. Etwas Ähnliches würde hier nicht gelingen.
Aber das hatten sein Vater und er auch nicht vor. Sie
wollten Tommasio Lampada mit seinen eigenen Waffen schlagen, mit
der Macht der Engel, die jedem von
ihnen innewohnte, wenn auch in unterschiedlicher
Ausprägung.
Und doch war ihm Vanessa in bestimmter Hinsicht
ein Vorbild: Sie hatte ihr Leben hingegeben, um das
Böse zu besiegen.
Obwohl er seinen Entschluß gefaßt hatte, spürte er erneut jene
tiefe Trauer, die ihn schon ein paar Stunden zuvor befallen hatte,
in den Bergen, als sein Vater ihm deutlich machte, welchen Weg sie
zu gehen hatten.
Es war keine Angst. Enrico fürchtete sich nicht vor dem
Unbekannten, vor dem, was gemeinhin nebulös als Jenseits bezeichnet
wurde. Er hatte Vertrauen in seinen Vater und in Gott.
Aber er hätte gern noch so viele Orte auf dieser Welt gesehen, so
viele Dinge getan, zu einem geliebten Menschen Worte gesagt, die
für immer unausgesprochen bleiben würden.
Um all das trauerte er – und um jede Stunde seines Lebens, in der
er sich nicht bewußt gewesen war, was es bedeutete zu leben, zu
atmen, ein Mensch zu sein. Du bringst ein
Opfer, ein großes Opfer, Enrico. Das gibt dir das Recht zu trauern.
Aber denk daran, daß durch dein Opfer alle anderen gerettet werden,
auch Menschen, die dir nahestehen. Sie und ihre Nachfahren können
nur in Freiheit leben, wenn du stark bist. Darüber solltest du
glücklich sein, und das Glück wird die Trauer
überwinden.
Enrico zuckte zusammen wie unter einem Hieb. Niemand hatte diese
Worte laut ausgesprochen. Sie waren in seinem Kopf, ähnlich den
vielen Stimmen, die er bislang verdrängt hatte, die aber stärker
und stärker wurden.
Jene Stimme aber, die eben zu ihm gesprochen und so gewiß und
tröstlich geklungen hatte, war um ein vielfaches deutlicher
gewesen.
Sein Blick fiel, wie von einer unsichtbaren Kraft geleitet, auf
einen großen Steinengel, den, wie alle anderen Figuren auch, das,
was sich vor zweitausend Jahren hier ereignet hatte, nicht
unbeschadet gelassen hatte. Der linke Flügel fehlte zur Hälfte, und
der linke Arm war gleich unterhalb der Schulter abgebrochen. Obwohl
von Menschenhand aus Stein gehauen, erschien der Engel ihm
lebendig. Vielleicht lag es an den Augen, die sich zu bewegen und
ihren Blick auf ihn zu richten schienen.
Aber das war wohl nur eine optische Täuschung, hervorgerufen durch
einen chaotisch flackernden Scheinwerfer. Oder sollte er glauben,
daß sein Urahn, der Erzengel Uriel, zu ihm gesprochen hatte? Vor
ihnen, am Rand des großen Schlunds, standen Tommasio und sein Sohn,
und beide breiteten wie auf ein geheimes Kommando die Arme aus.
Ihre ledernen Schwingen entfalteten sich, und es sah aus, als
wollten sich zwei Riesenfledermäuse in den Abgrund stürzen.
»Luzifer, erhabener Engelsfürst, Träger des Lichts, Ahnherr unseres
Geschlechts, Herrscher über das irdische Reich, wir rufen Dich und
die Deinen«, sprach Tommasio mit weihevoller Stimme. »Vier
Engelssöhne haben sich versammelt, und ihre Kraft soll die Deine
sein. Fahre in uns, und nähre Dich von unserer Macht, bis Du stark
genug bist, Dein Licht über uns leuchten zu lassen!«
Alle sahen abwartend zu dem schwarzen Schlund, und Enrico begann
schon zu glauben, Tommasios Worte seien ungehört
verhallt.
Quälend langsam verstrichen die Sekunden, wurden zu Minuten, und
nichts geschah. Reichte die Kraft der versammelten Engelssöhne
nicht aus, um die gefallenen Engel aus ihrem unfreiwilligen Schlaf
zu erwekken? Vielleicht brauchten Enrico und Lucius doch nicht bis
zum Äußersten zu gehen!
Tommasio wiederholte seine Anrufung, und danach veränderte sich
binnen weniger Augenblicke alles. Der Boden unter ihren Füßen
schien zu erzittern, und aus dem Schlund stieg etwas Gewaltiges,
Mächtiges nach oben. Etwas, das, gleich einer Druckwelle, alle
Menschen in dem Felsendom zu Boden warf.
Enrico spürte die fremde Macht, und jetzt fürchtete er sich.
Fürchtete sich davor, den Kopf zu heben und dorthin zu schauen, wo
der Schlund war – und das, was Jahrtausende hindurch in ihm
geschlafen hatte.